Work Life Balance auf japanisch

Die Japaner haben es ja bekanntlich nicht leicht, was die sogenannte Work Life Balance angeht. Genau genommen ist das noch ziemlich euphemistisch ausgedrückt. Die arbeiten sich tatsächlich wortwörtlich zu Tode. 40 Stunden Woche existiert nur auf dem Papier – ok – hat man bei uns auch – aber bei denen ist das die Regel! Und die Regel sieht in der Realität so aus: Viele arbeiten oft bis Mitternacht oder darüber hinaus, stolpern vom Schreibtisch in die U-Bahn von da aus ins Bett, nur um am nächsten Morgen wieder zum Schreibtisch zu straucheln. Privates gibt es null. 

Nur 1 Schritt

In der Doku siehst Du eine junge Frau, die nicht erkannt werden will – deshalb sieht man nur ihre Rückseite. Sie steht an einem U-Bahnsteig. Du siehst vorbeirauschende U-Bahnen. Die Frau steht ziemlich nah am Gleis. Sie sagt: „Nur 1 Schritt, und ich muss morgen nicht zur Arbeit. Nur noch 1 Schritt und ich muss nie mehr zur Arbeit“. Sie sagt: “So denken viele.“

Und jetzt wird klar, warum die meisten, die den Freitod wählen vorher nicht kündigen. Es ist ein Impuls. Dustehst noch um Mitternacht am Bahnsteig, bist fertig, erschöpft, ausgelaugt von Deinem Job. Den Schreibtisch hast du gerade erst verlassen und wartest jetzt nur noch darauf, ins Bett zu fallen und nichts mehr zu denken. Doch deine Gedanken lassen sich nicht abstellen. Schon schleicht sich der Nächste ein: in 6 Stunden stehst du wieder am Gleis, um dich für die nächsten 16 Stunden an Deinem Schreibtisch zu foltern. Aber es gibt einen Ausweg: 1 Schritt nach vorne und die Schinderei hat ein Ende. Genau deshalb gibt es bei den meisten Freitoden vorher keine Kündigung.

Musterangestellte?

Die Frau am Gleis scheint um die 38 Jahre. Du siehst nur ihre Silhouette. Braunes glattes Haar bis zu den Schultern. Dunkler Rock, helle Bluse und dunkler Blazer, dazu beige Ballerinas. Sie sieht aus wie die perfekt brav arbeitende Musterangestellte. Sie ist es nicht. Du hörst, wie sie erzählt: „Ich male Mangas.“ 

Mangas über die Verzweiflung derer, die nicht mehr können. Die sich regelrecht in den Wahn arbeiten. Du hörst, wie sie von Sinnlosigkeit erzählt – von der Abgestumpftheit. Wie im Vakuum: Arbeiten – Schlafen. Arbeiten – Schlafen. Arbeiten – Schlafen. Wie in einer Schleife. Nicht endendwollend.

Die Mangas werden eingeblendet. Du fühlst dich sofort betroffen. Ganz einfach – und doch brutal ehrlich und hart. Traurige Gesichter, minimalistisch auf dem elektronischen Zeichenbrett ins Leben gerufen. Fast kindlich, in Bleistift und schwarzweiß. Und doch tragen sie das ganze Elend, die ganze Verzweiflung zur Schau. Die Frau sagt: “Niemand weiß, dass ich diese Mangas zeichne. Noch nicht einmal meine Familie.  Auch nicht mein Ehemann.“

Wir leben, um zu arbeiten. Oder?

Was ist das für eine Welt, in der Menschen sich lieber zu Tode zu arbeiten, als aus diesem Moloch auszubrechen? Gefangen in einer Ideologie von Unterwürfigkeit, Ehre und Ansehen. Doch es gibt auch andere Stimmen. Die Jugend. Die, die an Universitäten studieren. Es findet ein kritischer Austausch statt. Das lässt hoffen. Wenn man sie fragt, warum sie denn arbeiten gehen – kommt die Antwort: „Um zu essen. Wir arbeiten um uns Essen leisten zu können.“ Wir leben um zu arbeiten. Ist das der Sinn? Das bedingungslose Grundeinkommen kommt in die Debatte. Viele sind dafür. Ein Teil ist komplett gehemmt. Was ist man ohne Arbeit? Ein Niemand. Wer arbeit – lange arbeitet!, ist wer. 

Mit dem Herzen leben

Ich bewundere alle, die wach sind. Ich bewundere alle, die mit ihrem Herzen leben. Die sich auflehnen, wenn sie merken, das etwas nicht stimmt. Ich bewundere die geheimnisvolle Frau am Bahnsteig. Die mutige Mangazeichnerin. Die, die merkt, das etwas nicht stimmt. Die gestresste, bis zur Bewusstlosigkeit arbeitende Gesellschaft. Das unabdingbare Festhalten an alten Konventionen. Bis zum Umfallen. Ich bewundere Menschen, die diesem Missstand in irgendeiner Form Ausdruck verleihen. Es sind mutige Menschen. Menschen, die sich nicht damit zufrieden geben, zu leben um zu arbeiten.

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