Gefangen
Kann man Gefangener seiner selbst sein? „Natürlich“, denke ich. Sind wir nicht alle Gefangene unserer selbst? Leben wir etwa nicht in unserem selbstgebauten Gefängnis? Ganz sicher – aber wir empfinden es meist nicht so! In Wahrheit jedoch, sitzen wir alle im Gefängnis. Im Gefängnis der eigenen Psyche.
Die Psyche ist der Hort für unsere Emotionen. Das Hirn ist der Hort für unseren Verstand. Wer hat wohl die Oberhand? Das frage ich mich oft. Mal ist es der Verstand, mal die Emotionen. Aber wer triggert wen zuerst? Ich neige ja zu der These, dass es unser Unterbewusstsein/Emotion ist, die uns lenkt. Nicht der Kopf. Der Kopf kommt nanosekunden später, während die wahre Entscheidung bereits im Unterbewusstsein getroffen wurde. Aber das hören wir nicht so gerne, dass wir in Wahrheit von unserem Unterbewusstsein gelenkt werden und nicht von unserem Verstand. Denn uns kommt es in der Regel so vor, als kämen die Entscheidungen vom Hirn. Aber darum nennt sich das Unterbewusste ja auch Unterbewusstsein – eben weil wir die Entscheidungsvorgänge nicht bewusst bemerken.
Wir möchten uns selbstverständlich eher als vernunftbegabte Wesen sehen, denn als Marionetten unseres Unbewussten. Das gefällt niemanden und man sieht sich auch nicht gerne in der Rolle eines Gefangenen. Aber nichts anderes sind wir; wenn wir wirklich ehrlich zu uns sind. Keiner kann wirklich aus seinen Ängsten heraus, die er im Laufe seines Lebens erfahren hat. Wir können nur versuchen, sie besser zu verstehen! Und je schlimmer die Erfahrungen, desto gefangener sind wir.
Ich habe gestern den Film über Björn Borg und John McEnroe gesehen. Der Film war ein klassisches Beispiel von Gefangensein. Borg – aus ärmlichen Verhältnissen – später bester Tennisspieler seiner Zeit, war gefangen. Gefangen im Ehrgeiz, der beste Tennisspieler der Welt zu werden. Es ist ihm gelungen. Aber zu welchem Preis? Seine gesamte Daseinsberechtigung hat er aus seinen Siegen gezogen. Er war getriebener seiner Selbst. Verlieren kam für ihn nicht infrage. Mit einer selbstzerfleischenden Disziplin holte er sich einen Sieg nach dem anderen. Als Mensch jedoch war er sehr unglücklich. Kein einziger Sieg hat ihn wirklich weitergebracht. Zumindest nicht zu sich selbst.
Stattdessen entfernte er sich immer mehr von sich: lauter Selbstzweifel, Ängste und Sorgen, dass der nächste Sieg doch eine Niederlage werden könnte. Sein schlimmster Gegner: John McEnroe – praktisch ein Spiegelbild seiner selbst. Denn auch McEnroe war zerfressen von Ehrgeiz. Er – der Aufsteiger, der unbedingt sein erstes Wimbledon Turnier gewinnen wollte Beide Charaktere: Gefangene ihrer selbst. Natürlich war es nur ein Film und sicherlich wurden dabei auch viele Aspekte der beiden Persönlichkeiten nicht thematisiert. Doch der Tenor war unverkennbar dieser: Keiner der beiden war wirklich zufrieden mit seinem Leben – zumindest ist es mein Eindruck bei diesem Film. Es ging immer nur um den nächsten Sieg.
Übertragen auf das Leben an sich ergibt sich eine interessante Analogie: wir werden gesteuert von unseren Erfahrungen und den Päckchen die wir alle mit uns herumtragen. Borg hatte wohl die Erfahrung gemacht, dass er solange unangreifbar ist, solange er der Beste ist. Doch die Furcht, auch einmal zu verlieren, machte aus ihm ein seelisches Wrack. Die Furcht und seine Zweifel waren seine ständigen Begleiter. Und es machte überhaupt keinen Spaß, diesem Leiden zuzusehen. Nicht nur einmal habe ich mich während des Films gefragt, wieso er denn nicht einfach aufhört – nach so vielen Siegen und dem Erreichen seines Ziels; der Beste der Welt zu werden? Wieso quälte er sich stattdessen immer weiter?
Es war ihm anzusehen, dass er absolut keine Freude im Leben empfand – immer nur dieser ewige Druck. Warum leidet dieser Mensch einfach immer weiter- obwohl es ihm gar nicht gut tut? Diese Fragen gingen mir immer wieder durch den Kopf. Natürlich ist der Sieg eine Belohnung. Aber es ist wie beim Konsumieren: Kurze Freude und einige Zeit später ist alles schon wieder verpufft. Die Halbwertzeiten für diese Erfolge sind meines Erachtens doch sehr gering im Verhältnis zum Preis, den man dafür zahlen muss, ständig der Beste sein zu wollen: Ein ewiger Kreislauf von Selbstzweifeln, Selbstzerfleischung und Ängsten, seinen Platz dort oben irgendwann nicht mehr halten zu können.
Die eigene Psyche kann einen schon ganz schön fertig machen. Und wenn man den Kopf nur immer damit beschäftigt, den nächsten Sieg einzufahren – ja wo bleibt denn da noch Platz – um sich das Ganze einmal von einer anderen Perspektive anzuschauen? Da ist nicht einmal ein Millimeter Platz für andere Gedanken oder andere Gefühle. Die dominieren Dich in Grund und Boden. Ich finde die Vorstellung gräßlich, so gefangen in sich selbst zu sein und keinen winzigen Schritt zur Seite treten und einen wirklich klaren Gedanken fassen zu können.
Zugegeben: Es ist ja auch mehr als unangenehm, sich unbequemen Fragen über sich selbst zu stellen. Keiner will wirklich von sich hören, dass er Gefangener seiner Vorstellungen ist. Jeder würde das ganz sicher von sich weisen, wenn er sich nicht gerade zufällig mit diesem Thema kritisch auseinandersetzt. Die meisten ziehen einfach ihren Stiefel durch und graben nicht allzu tief in sich – denn es könnten Einsichten ans Licht kommen, die einen mehr verstören denn helfen. Es ist eine Gratwanderung: Will ich unwissend bleiben? Oder will ich wirklich einiges über mich erfahren – auch wenn es unangenehm wird? Die rote oder blaue Pille?
Borg hatte die ganze Zeit Angst; Angst zu versagen, Angst zu verlieren. Kommt Dir bekannt vor? Mir auch. Das ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, zu erkennen, dass wir Gefangene sind und dann zu handeln. Und zwar so zu handeln, dass wir ehrlich mit uns umgehen. Dass wir ergründen, welche Gründe hinter den Gründen unserer Handlungen stecken. Ich versuche dies seit fast 7 Jahren. Und es ist wahrlich nicht einfach. Oft kommen Wahrheiten dabei heraus, die ich lieber nicht so genau beleuchten würde. Ich ertappe mich dann auch dabei, dass ich versuche mich mit anderen Gedanken abzulenken, wenn mir die Wahrheit zu anstrengend wird. Aber ich ich bleibe dran und komme somit jeden Tag meiner eigenen Unabhängigkeit ein bisschen näher: Meiner inneren Freiheit, meinem selbstbestimmten Handeln.
Ich will nicht Gefangener meiner Selbst sein (bleiben?) und deshalb werde ich auch weiterhin mein Möglichstes versuchen, den Gründen hinter den Gründen meiner Handlungen auf die Spur zu kommen und vielleicht – aber nur vielleicht, habe ich tatsächlich eines fernen Tages die innere Freiheit, von der ich mir wünsche ich hätte sie bereits jetzt schon. Aber das ist eine weitere Illusion, mit der mein Hirn versucht mich zu beruhigen. Es ist ein langer Weg und ich weiß, dass ich noch längst nicht angekommen bin. Aber wie heißt es so schön: „Der Weg ist das Ziel“. Und auf dem Weg zum Ziel wird Dir einiges über den Weg laufen, was Du nicht erwartest – aber die Aussicht auf innere Freiheit ist den Weg wert, auch wenn er anstrengend und zeitweise auch sehr beängstigend sein kann. Es gibt keine Alternative.
Oder doch: Die blaue Pille 😉
Eure Marielosophie