Die Magie der Rituale

Vor längerer Zeit hatte ich mir die Idee zu diesem Text schon gespeichert: Die Magie der Rituale. Jetzt – einige Monate später – und mit Corona in eine andere Welt katapultiert, fällt mir dieser Titel wieder ins Auge. Auf der Suche nach Gedanken, die nichts mit Corona zu tun haben, laufen mir die Rituale über den Gedankenweg. Rituale also: Warum nicht? Wenn Rituale einen aktuellen Bezug haben, dann wohl besonders jetzt. Warum sind Rituale so wichtig? Warum sind Rituale gleichzeitig so unpopulär? Sie wirken oft angestaubt und rückständig, so unflexibel und auch teilweise störrisch.

Aber Rituale sind oft wichtiger, als ihr etwas ambivalenter Ruf vermuten lässt. Auch denke ich oft, dass die Wertschätzung für Rituale mit dem Alter zunimmt. Natürlich sind Rituale schon für Kinder wichtig. Sie werden aber in einem anderen Kontext erlebt. Und sie werden oft unbewusst erlebt. Der Erwachsene dagegen muss sich Rituale erst einmal überhaupt zugestehen. Gerade in der Pubertät und im Erwachsenwerden meidet der Jugendliche und junge Erwachsene, Rituale wie der Teufel das Weihwasser.

Zumindest war es bei mir in meinen Jahren so. Gerade als junge Erwachsene gab es für mich keine gruseligere Vorstellung, als Rituale. Sie umwehte immer ein Hauch von Moder und Alter, von Unflexibilität und von Starrheit. Damit wollte ich nichts zu tun haben, Damit wollte ich mich nicht identifizieren. Ich war jung, dynamisch und forsch – also das genaue Gegenteil von unflexibel und starr. Ein Ritual war für mich das Synonym für das alt sein. Und jetzt, Jahrzehnte später – jetzt wo die Lebensjahre verstrichen, viel Lebenserfahrung aber hinzugekommen ist, sehe ich in Ritualen etwas ganz anderes:

Rituale helfen uns, durch unruhige Zeiten zu kommen. Unruhigen Zeiten wie wir sie gerade auf der gesamten Welt erleben. Ein Ritual ist wie ein Stück festen  Untergrunds in dem mehr als wackeligen Umfeld. Sie geben uns Stabilität, sie geben uns Halt. Sie verschaffen uns eine Zeit des Innehaltens, des Besinnens. Man könnte sagen, dass Corona uns gerade eine Zeit der Rituale verpasst. In dieser Zeit, in der jeder Tag gleich ist- da die Welt still steht – in dieser Zeit haben wir Gelegenheit, Rituale zu entwickeln oder wieder neu aufleben zu lassen. Wir teilen uns unsere stillstehende Zeit auf: In Aktivitäten, die sich jeden Tag ähneln. Und ohne dass wir es recht bemerken, werden aus diesen Aktivitäten Rituale. Und die Rituale ersetzen unser bisheriges Leben. Unser Leben, dass geprägt war von mehr, mehr und noch mehr mehr.

Ich schreibe zwar gerade in der Vergangenheitsform, so als würde es dieses Leben so nicht mehr geben. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Denn das Leben nach Corona wird ein anderes werden also das Leben vor Corona. Auch wenn wir es jetzt noch nicht wahr haben wollen und es noch versuchen zu leugnen. Wir können nicht einfach wieder da anschließen wo wir aufgehört haben. Auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen. Und ich bin mir auch sicher, dass wir an diese Zeiten zurückdenken und uns sagen werden:“ es wurde noch viel schlimmer, wenn wir geahnt hätten, was noch auf uns zukommt, hätten wir die jetzige Zeit wohl noch anders verbracht. 

Aber natürlich ist das nur mein Gefühl. Keiner weiß wirklich, was aus dieser Krise alles erwachsen wird. Im Moment habe ich eher das Gefühl, dass die einzelnen Bundesländer und die Regierung in Berlin nicht wirklich an einem Strang ziehen. Das wird zum Problem, gerade was die Lockerungen angeht. Ich denke, wir sind zu früh um die Maschinerie wieder anzuwerfen. Und offensichtlich sind sich die Damen und Herren untereinander auch uneinig, was das richtige Vorgehen ist. Solange die gesamte Lage so fragil und unsicher ist, desto wichtiger werden mir meine Rituale.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann kann ich über meine Gedanken in jungen Jahren nur die Augen verdrehen, ob meiner Unwissenheit und einer gewissen Arroganz heraus, so über Rituale geurteilt zu haben. Aber es wird mir jetzt bewusst, dass die Betrachtung und Wertschätzung von Ritualen mit zunehmendem Alter an Wichtigkeit und Bedeutung gewinnen. Vielleicht auch deshalb, weil wir uns mit jedem weiteren Tag unserer Endlichkeit nähern. Und je mehr Wochen, Monate und Jahre vergehen, desto wichtiger werden mir meine Rituale. Sie geben mir Halt in einer Welt, die vor einem gewaltigen Paradigmenwechsel steht.

Das birgt mehr als nur Unsicherheit. Das gesamte bisherige Fundament scheint mehr als brüchig, es wackelt und bebt. Und Rituale sind die einzigen Balken, die das ganze noch zusammenhalten. Ich bin froh, dass ich meine Rituale habe. Sie sind wie ein Boot für mich auf stürmischer See. Ich weiß, das Boot ist nicht besonders sicher, trotzdem trägt es mich noch durch den Sturm. Und ich hoffe sehr, dass es nicht so bald auseinander bricht. Rituale sind nichts anderes. Sie tragen einen durch unsichere Zeiten, sie geben einem das Gefühl von Vertrautem und Vertrautes schafft Entspannung. Schafft Zeit, Zeit sich Gedanken zu machen. Denn für unsere Rituale brauchen wir unseren Arbeitsspeicher nicht, wir können in den Tagtraum-Modus umschalten.

Rituale verschaffen uns Ruhe und die Möglichkeit, klare Gedanken zu fassen. Die Lage zu überdenken, zu bewerten vielleicht neu zu bewerten; anders zu bewerten. Sie helfen uns in diesen unsicheren Zeiten, nicht unseren inneren Kompass zu verlieren. Sie geben uns Orientierung und einen Hauch von Normalität, in den Zeiten, in den nichts mehr normal ist. Wir retten uns auf eine Insel. Auf ein Stück Boden, das noch nicht wackelt und bebt. Rituale. Sie werden oft verkannt und lächerlich gemacht. Doch gerade in Zeiten wie diesen, sind Rituale wohl unser bester Helfer in der Not. Denn es ist das Seil, dass uns sichert, solange die Lawine auf uns zurollt. Halten wir doch an diesem Seil fest, es ist ok und es ist überhaupt nicht schlimm. Rituale sind mehr, als was sie zu sein scheinen. Würdigen wir sie doch ab jetzt mit einem wohlwollenderem Blick, als wir – ich – es in der Vergangenheit getan habe. Auch das nennt man wohl Erfahrung und Erkenntnis.

Eure Marielosophie

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