Die Zwangsjacke
Eine 90 jährige erzählt, dass ihre besten Lebensjahre die zwischen 80 und 90 waren, denn niemand hat mehr etwas von ihr erwartet. Weder an Leistung, noch an Benehmen. Sie fühlte sich frei und unbeschwert. Jede ihrer Eigenarten wurde einfach akzeptiert und nicht gemaßregelt. Warum? Weil sie todgeweiht ist. Und ich frage mich: Warum muss man erst dem Tod ins Auge blicken, um sich frei zu fühlen? Warum akzeptieren die anderen nur den Tod als Erklärung, dass man sich so geben kann, wie man wirklich ist? Warum muss der Tod erst vor der Türe stehen, damit sich diese alte Frau frei fühlt? Warum ist das nicht bereits in jungen Jahren so?
Wieso gibt es diesen Freifahrtschein – von der Gesellschaft – von einem selbst – erst am Ende eines Lebens?
Wir mühen uns ab. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, ein halbes Jahrhundert und darüber hinaus. Gefangen in unseren – von außen herangetragenen Glaubenssätzen. Eingezwängt zwischen eigenen und fremden Erwartungen und Anforderungen.
Am Ende eines Lebens ist nichts mehr davon relevant!
Es bleibt nur der Kern. Das Essentielle. Das worauf es im Leben ankommen sollte, aber nicht ist: Die Freiheit, das eigene Leben leben zu dürfen. Ohne die Angst, den Vorstellungen der anderen nicht zu genügen. Denn um´s Genügen geht es am Ende des Lebens nicht. Wäre es nicht wundervoll, dieses Gefühl mit in das Leben zu tragen? Wenn wir die Möglichkeit hätten – dieses Gefühl, dass man ok ist so wie man ist…- wenn wir dieses Gefühl fest in uns einpflanzen könnten; wenn wir auch tatsächlich selbst daran glauben würden. Mit fester Überzeugung und ohne Zweifel. Wieviel weniger Leid gäbe es? Wir müssten uns nicht grämen und betroffen sein, weil wir angeblich den Anforderungen und Erwartungen der Anderen nicht genügen. Wir würden einfach darüber hinwegsehen und uns auf unser Innerstes beziehen. Es hegen und pflegen und als Hort der Sicherheit immer wieder zu ihm zurückkehren.
Am Ende unseres Lebens, wenn es nicht mehr darauf ankommt (ich frage mich auf was?) gewinnen wir die Freiheit, die wir uns das gesamte Leben gewünscht haben. Frei im Kopf, frei von der gedanklichen Zwangsjacke. Die wurde abgelegt. Endlich! Nach all den Jahrzehnten.
Und du fragst dich unvermittelt: Verdammt, warum habe ich mir diese Zwangsjacke nicht schon früher vom Leibe gerissen? Warum habe ich mir diese überhaupt überziehen lassen?
Nein stimmt nicht – ich habe sie mir bereitwillig angezogen, denn mir wurde Glauben gemacht, dass es eine schöne, warm gefütterte und sichere Jacke sei. Doch das war ein Irrtum. Denn diese Jacke passte von Anfang an nicht. Und man hat gezogen, gezerrt und noch mehr gezogen, sie wurde nie weiter. Je mehr ich zerrte, desto enger wurde diese Jacke. Bis sie sich zum Schluss als das zeigte, was sie wirklich war: Die Zwangsjacke der Anderen.
Und erst fast ganz am Ende der Vorstellung – welche sich LEBEN nennt, kommt dir ein Verdacht: Die Jacke hat dir nie wirklich gepasst. Du hast dir nur etwas vorgemacht. Du hast dir auch etwas vormachen lassen. Nur am Ende des Lebens spürst du, wie eng und einschnürend diese Jacke dein Leben lang war. Und erst dann, wenn das Ende naht – schaffst du es endlich, dir diese Jacke vom Leibe zu reißen; um das zum Vorschein zu bringen, was du dein Leben über versteckt hast: Dich!
Lass es nicht soweit kommen!
Reiß Dir diese Zwangsjacke bereits während Deines Lebens vom Leib – und nicht erst – wenn es fast zu spät ist.
Versuche bereits im Leben DU SELBST ZU SEIN.